1914-10-16-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 1914
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 10/18/1914
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Die Allgemeine Zeitung in Chemnitz an das Auswärtige Amt

Schreiben


Chemnitz, den 16. Oktober 1914.

Der ergebenst Unterzeichnete hatte unlängst Gelegenheit, eine Persönlichkeit zu empfangen, die - direkt aus Konstantinopel kommend - mit den Angehörigen unserer dortigen Militärmission seit deren Verweilen in der türkischen Hauptstadt bis in die letzte Zeit engste Beziehungen unterhielt. Der Unterzeichnete wurde zur Weitergabe der in der Anlage beigefügten vertraulichen Mitteilungen an das Auswärtige Amt ausdrücklich ermächtigt, Nennung des Namens der Vertrauensperson wurde allerdings nicht gewünscht, doch sei hinzugefügt, dass die betreffende Person vollständig vertrauenswürdig ist.

Der Unterzeichnete hält eine Uebermittlung der vertraulichen Informationen an das Auswärtige Amt für angebracht und sei es nur zu dem Zwecke, selbige mit der eingegangenen amtlichen Darstellung der Lage in der Türkei zu überprüfen.


Mit vorzüglicher Hochachtung
Allgemeine Zeitung
Verlag

Paul Raabe

Anlage

Informationen.


Die Türkei ist für einen Krieg vollständig unvorbereitet: In Konstantinopel mangelt es jetzt schon an Brot und Butter, da der Seeweg versperrt und der Landweg zu weit. Die Kosten für die deutsche Militärmission bezahlt bereits Deutschland, da es der Türkei an Geld mangelt. Heer und Marine sind in einem schlechten Zustand. Von den Kriegsschiffen haben die Engländer die Kanonen nach London gesandt zum „Ausbessern“. In anderen Schiffen fehlen Schiffsteile, sodass Deutsche seit 4 Wochen mit Instandsetzen der Schiffe beschäftigt sind. Die Dardanellen wurden gesperrt, weil englische Kriegsschiffe ein ausfahrendes türkisches Unterseeboot bedrohten mit der Begründung, es habe deutsche Marineoffiziere an Bord. Das Landheer ist völlig ungerüstet. Die Stiefel fallen den Soldaten von den Füssen. Statt der Riemen gebraucht man Bindfaden, nicht einmal Stricke. Die Ernährung macht schon in Friedenszeiten grösste Schwierigkeiten. Oberstleutnant Kirsten hat ein Militärkommando an der bulgarischen Grenze; er berichtet, dass sich seine Soldaten tagelang von kaltem Wasser und gestohlenen Weintrauben nähren müssen. Auch die Festungen sind in denkbar schlechtestem Zustande. Erzerum eine Festung zu nennen, sei lächerlich. Ein türkischer Krieg würde eine Blamage bringen. Da trotz dieser Verhältnisse die deutsche Regierung die „Goeben“ und die „Breslau“ der Türkei überlassen hat, so scheine es beinahe, als ob unser Botschafter Wangenheim die Lage zu optimistisch beurteilt habe. Jedenfalls ist General Liemann [Liman] mit der ganzen deutschen Militärmission unglücklich, in Konstantinopel sitzen zu müssen, während die Kameraden sich mit Ruhm bedecken. Von der türkischen Regierung soll nur der Kriegsminister Enver und halb der Finanzminister Talaat für einen Krieg sein. Der Grosswesier droht mit seinem Rücktritt. Sollte Enver „zufällig“ sterben, so wäre die Kriegspartei in Konstantinopel erledigt und die deutsche Militärmission wahrscheinlich ernstlich gefährdet. Der Sultan ist völlig einflusslos. Ein weitergehendes Interesse sei gegenüber der Neugestaltung Europas überhaupt nicht vorhanden, man wünsche höchstens, mit den Griechen ins Reine zu kommen. Jedenfalls werde es sich die Türkei sehr überlegen, aus der Reserve herauszugehen. Das sei höchstens zu erwarten, wenn die Russen in Galizien entscheidend geschlagen würden. England und Russland sind von den Zuständen der Türkei völlig unterrichtet, nur die Furcht der Fernwirkung auf ihre mohamedanischen Untertanen hält diese ab, über die Türkei herzufallen.

Die Stimmung in Rumänien sei mit Hilfe des russischen Rubels völlig deutschfeindlich geworden. Mit deutschem Golde ist man jetzt bemüht, eine Aenderung herbeizuführen.



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